Resolution zum sogenannten „Radikalenerlass“ und Berufsverboten

Am 28. Januar 2022 jährte sich zum 50. Mal der sogenannte „Radikalenerlass“. Er wurde 1972 von der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder unter dem Titel „Grundsätze zur Frage verfassungsfeindlicher Kräfte im Öffentlichen Dienst“ beschlossen. In der Folgezeit wurden bundesweit rund 11.000 Berufsverbots- und 2.200 Disziplinarverfahren eingeleitet und offiziell 1.256 Bewerber*innen nicht eingestellt sowie 265 Beamt*innen entlassen. Auch in Mannheim lebten bzw. leben Betroffene, die ihr Leben lang unter den Folgen dieses Erlasses leiden mussten.

In Baden-Württemberg wurde der Beschluss laut Ministerpräsident Kretschmann „mit besonderer Härte“ praktiziert, mittels des sogenannten „Schiess-Erlasses“ vom 2. Oktober 1973. Auch der nach dem damaligen Innenminister Karl Schiess (CDU) benannte Erlass jährt sich in diesem Jahr zum 50. Mal.

Auf das Land entfielen nach Angaben des Innenministeriums 222 Nichteinstellungen und 66 Entlassungen. Auch für über 30 Betroffene, die in Mannheim studiert, gelebt und gearbeitet haben, hatte der Erlass schwerwiegende Folgen.

Im Vorfeld des 50. Jahrestages des sog. Radikalenerlasses hat 2021 eine Vielzahl von Persönlichkeiten aus Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft und Kultur gemeinsam einen Aufruf unterzeichnet: Den Erlass generell offiziell aufzuheben, die Folgen der Berufsverbote und ihre Auswirkungen auf die demokratische Kultur aufzuarbeiten, alle Betroffenen vollumfänglich zu rehabilitieren und zu entschädigen. Weiterhin wurde hierzu an der Universität Heidelberg eine Forschungsstudie erstellt, die vom Ministerpräsidenten Kretschmann gefordert und vom Wissenschaftsministerium finanziell gefördert worden war.

 

Resolution

Der Gemeinderat der Stadt Mannheim schließt sich dem ausdrücklich an und fordert die baden-württembergische Landesregierung und den Landtag auf, den Forderungen der Betroffenen nach Aufarbeitung, Entschuldigung sowie Rehabilitierung nachzukommen und einen Entschädigungsfonds einzurichten, um insbesondere in Fällen von Altersarmut und drastischen Pensions- bzw. Rentenkürzungen die entstandenen Verluste auszugleichen.

 

Begründung:

Der sogenannte „Radikalenerlass hat der Demokratie und dem gesellschaftlichen Klima in der Bundesrepublik schweren Schaden zugefügt. Viele Menschen wurden in ihrer Existenz bedroht. Eine offene, tolerante, demokratische Gesellschaft braucht den uneingeschränkten Erhalt der Grundrechte. Nach nunmehr über 50 Jahren ist es an der Zeit, das Kapitel Berufsverbote endgültig abzuschließen.

Der Studie von Edgar Wolfrum zufolge haben an der Universität Mannheim im Sommer 1975 „die versammelten Hochschullehrer der Sozialwissenschaften, […] namhafte Professoren und Mitglieder der Fakultät“, darunter der Soziologe und damalige Dekan Wolfgang Zapf sowie der renommierte Politikwissenschaftler Rudolf Wildenmann, eine „Erklärung an den Ministerpräsidenten“ verfasst und sich gegen die „Überprüfungspraxis durch das Innenministerium und den Verfassungsschutz“ gewandt. In der Studie ist dem ein eigener Beitrag gewidmet, unter der Überschrift „Mannheimer Sozialwissenschaftler gegen die ‚Gesinnungskontrolle‘ an baden-württembergischen Hochschulen“ (S. 327 ff.)

Der Herausgeber der Studie weist in seiner Einführung auch darauf hin, dass an der Universität Mannheim Mitte 1981 sogar „eine spanische Staatsangehörige, vorgesehen als Verwaltungsarbeiterin zur Aushilfe (Reinemachefrau), […] auf Anfrage ihres Arbeitgebers, dem universitätseigenen Rektorat […] auf ihre Verfassungstreue hin überprüft werden“ sollte (S. 47f.).

Die Studie bestätigt, dass damals politisch „mit Kanonen auf Spatzen geschossen“ (Seite 193) wurde. In rechtlicher Hinsicht ist die Praxis der Berufsverbote gemäß Studie als „Einschränkung von Grundrechten […] zu verurteilen“ (S. 475, Fn 12). Sie war „von Anfang an als rechtswidrig […] einzustufen“, weil sie „mit der ILO-Konvention Nr. 111 […] nicht übereinstimmt“ (S. 289). Die Praxis der Berufsverbote wurde 1987 von der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO / ILO) und 1995 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg als Unrecht verurteilt.

Prof. Dr. Philipp Gassert, Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim, zieht in der genannten Studie der Universität Heidelberg zum „Radikalenerlass“ in seinem Beitrag das Fazit: „Aus heutiger Sicht sind die damaligen Eingriffe in die Menschenrechte und die Meinungsfreiheit skandalös“ (S. 466). Die Historikerin Mirjam Schnorr kommt zu dem Schluss: „Die Frage […], ob die Betroffenen ihre Forderungen in naher Zukunft eingelöst wissen können, das zu entscheiden, ist freilich nicht die Aufgabe der Wissenschaft, sondern vor allem eine des politischen Wollens“ (S. 193).

Von 2012 bis 2021 haben die Landesparlamente von Bremen, Niedersachsen, Hamburg und Berlin Beschlüsse zur Aufarbeitung gefasst, gegenüber den Betroffenen kollektiv Entschuldigungen ausgesprochen und Rehabilitierung zugesagt, zum Teil auch Entschädigungen angekündigt. Derzeit liegen den Petitionsausschüssen der Landtage von Hessen und Niedersachsen von Betroffenen eingereichte Petitionen zur Beschlussfassung vor.

In Baden-Württemberg werden die berechtigten Forderungen der Betroffenen bedauerlicherweise seit Jahren abgelehnt, und der Ministerpräsident hat bei einem Gespräch mit Betroffenen am 8. Februar 2023 laut Medienberichten daran erneut festgehalten.

Viele der damals Betroffenen spüren die Auswirkungen der Berufsverbote bis heute, etwa durch Altersarmut mit zum Beispiel nur 680 Euro Rente im Monat und Kürzungen bei ihren Ruhegehältern. Ihre materiellen Nachteile müssen ausgeglichen werden.